Eine Anthologie von Zitaten über drei Generationen von Deutschen

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Briefdokument: 'Die Kameraden'



(von Hans Bender, aus dem Tschechischen übersetzt von Reinhard Ibler)


Im Nachlass seines 2004 verstorbenen Vaters Karl (Karel) Abeles fand mein Freund Petr neben vielen anderen Schrift- stücken einen alten, vergilbten Brief, adressiert an den Vater. Der Verfasser des in tschechischer Sprache aufgesetzten Doku- mentes – eine Unterschrift unter dem Brief fehlt – war vermut- lich ein gewisser Hans Bender, der diese Zeilen kurz nach Kriegsende seinem Freund in Dankbarkeit gesandt haben muss. Im Krieg teilten die zwei Freunde das gleiche mörderische Schicksal: Beide wurden 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und mussten im Januar 1945 am »Todesmarsch«* von Auschwitz nach Mauthausen teilnehmen, kurz bevor die russische Armee das Lager befreite. In dem bald 70 Jahre alten Zeitdokument erzählt Hans Bender in schlichten, ergreifenden Worten von den schrecklichen Erlebnissen während der tagelangen Märsche in eisiger Kälte.

Der 18. Januar 1945. Der Schnee fällt schwer auf die Erde, die still Hunderte marschierender Menschen aufnimmt. Unter ihnen seid ihr zwei Kameraden, Karel und du. (mit ´du` meint Hans Bender sich selbst)
Eine Weile später kommt ihr zu Hause an. (gemeint ist hier das Barackenlager des KZ Auschwitz)
Sie wählen Leute für die Arbeit aus. Karel nehmen sie mit, du sollst bleiben.
Nein, du darfst nicht, du musst mit ihm zusammen-bleiben. Und er? Er mit dir.
Sie wollen dich nicht, du bist schwach! Doch du windest dich durch die Menschen hindurch und schlüpfst unter die Ausgewählten.

Und schon haben sie dich erblickt. Sie lassen dich, sind zu faul, noch einen zu suchen. Mit dir haben sie die volle Zahl.
Du bleibst mit deinem Kameraden zusammen. Ihr geht zusammen weiter, zur Arbeit, während die anderen fortgehen. Weit, weit, ohne zu wissen wohin.

Wieder hast du einen Tag gewonnen, einen Tag der Hoffnung, des Willens und des Optimismus. Vielleicht wirst du es doch noch erleben, wenn sie kommen, du glaubst daran! (gemeint ist hier die russische Befreiungsarmee)

Ihr geht zum letzten Mal zur Arbeit. Ihr kocht euch alles, was ihr habt. Du weißt nicht, was sein wird. Du weißt nicht, was morgen sein wird, lass es dir deshalb heute ´gutgehen`! Leb wenigstens heute!
Von der Arbeit geht ihr früher weg, schon um sieben Uhr. Es ist dunkel, nur in der Ferne kann man das Blitzen der Schrapnelle und der Granatenexplosionen sehen. Vielleicht kommen sie doch!? (gemeint ist hier die unmittelbare Nähe der russischen Front)
Heute möchtest du nicht nach Hause. Du überlegst. Wenigstens hast du gewusst, wo du schläfst und wann du essen wirst.
Und jetzt?! Was erwartet dich und all die anderen?

Dein Blick wandert von einem Menschen zum anderen, und sobald du ihn auf Karel richtest, wirst du aufhören, nachzudenken. Immerhin seid ihr zu zweit. Es geht euch besser als den Menschen, die allein sind. Und schließlich lässt du dir nicht anmerken, dass du Angst vor dem hast, was sein wird.
Aber Karel geht und sieht dich nicht. Du rufst ihn, doch er hört dich nicht. Du rufst noch einmal, und es scheint dir, dass er gehört hat und dir langsam, wie im Traum, den Kopf zuwendet. Du greifst nach ihm.
„Karel“, rufst du, „gibt es heute eine Extraration?“
Er schweigt, etwa eine Minute, um dann plötzlich zu sagen:
„Ja, ja, heute freilich, das ist prima.“ So, als ob er aufgewacht wäre.
Er geht vor dir, weiß nicht, dass du ihn beobachtet hast. Ihr kommt langsam nach Hause.

Was steht dort? Die schon zum Abmarsch versammelten Menschen?
Rasch, schnell alles zusammenpacken, und schon geht es los.
Wir haben doch nichts für den Weg! Sie wissen das. Aber es ist keine Zeit, uns das Brot zu verteilen.

Sie öffnen die Vorratslager. Wir sind doch 15.000, wie soll das gehen? Karel ist in der Menge verschwunden, und du weißt nicht, wo er ist. Du gehst selbst, dich um ein Brot für den Weg zu prügeln. Du weißt nicht, für wie lange, aber du weißt, dass es ordentlich was sein muss. Aber du kommst doch da nicht hinein.

Einer fällt plötzlich aus dem Fenster des Vorratslagers. Du rennst zu ihm hin. Ja, sechs Laib Brot hat er. Warum soll er sechs haben und du nichts? Und schon nimmst du ihm zwei Stück und läufst weg. Aber nicht weit.

Ein Schlag und du fällst hin. Du weißt nicht, wie das kommt, doch Brot hast du keines, aber du siehst einen Menschen, der einfach mit deinem Brot weggeht.
Ja, du warst stärker als der erste, aber er war stärker als du.
Du machst dir bewusst, dass du wieder nichts hast, und deshalb läufst du wieder hin wie ein Automat. Du bemerkst, wie jemand mehrere Laib Brot hinausträgt. Du nimmst ihm etwas aus der Hand und rennst weg.

Du hörst, wie dich jemand ruft …
„Ahoj, Karel.“
Er ist in einer Ecke und hat das, weswegen du so lange gekämpft hast. Aber wo tun wir das hin?
Doch Karel reicht das nicht. Er lässt dich stehen und aufpassen, während er noch einmal geht. Du stehst in dem Winkel und beobachtest. Dort, wo ein Grüppchen von Menschen steht, ist Brot. Sie prügeln sich. Du stehst und hoffst, dass sie dich nicht bemerken. Nach einer Weile kommt Karel mit leeren Händen.

Du hörst ein Pfeifen. Ja, den wütenden Ton von irgendjemandes Pfeife.
Und schon brennt das erste Feuer. Was ist?
Warum legen sie vor dem Abmarsch ein Feuer?
Von der einen Seite das Feuer, von der anderen das Brüllen der sich um das Brot schlagenden Menschen, all das festigt deinen Entschluss, dorthin zu laufen, wo Ruhe ist. Du läufst mit Karel zu den Menschen, die sich schon aufgereiht haben. Eine letzte Kontrolle, und schon setzt ihr euch langsam in Bewegung.

Noch einmal schaust du zurück in die Flammen, welche die letzten Reste deines ´Heims` niederbrennen. Du siehst ein Muss darin, dass diejenigen, die gehen, gegen diejenigen siegen werden, die das Feuer gelegt haben. In dir wächst ein neuer und entschlossener Hass heran, der andererseits von deinem festen Glauben zeugt, all das zu überleben, was folgen wird.

Langsam und entschlossen marschiert ihr beide auf einem neuen, noch nicht ausgetretenen Weg, dessen glitschiger und gefrorener Boden an das unsichere Leben der bevorstehenden Tage erinnert.

Es ist eine schöne, sternenreiche Nacht, die nur von den Schreien und Befehlen Einzelner gestört wird. Anhalten, gehen, laufen und traben, darin besteht ihre Taktik, und Sieger kannst du nur dann sein, wenn du durchhältst.

Der nächtliche Marsch bringt teilweise Beruhigung in eure Reihen. Es ist jedoch nur eine vermeintliche Ruhe. Es ist nur eine Annahme, die sich auf die Mehrheit der Marschierenden auswirkt.

Still, ohne Worte gehst du langsam weiter. Nur von Zeit zu Zeit stützt du dich auf Karel. Langsam verlasst ihr die vertrauten Gegenden und kommt in flache Ebenen, die den Großteil der dortigen Landschaft ausmachen. Unter dem Schneestaub, der den größeren Teil des Weges bedeckt, ist die Eisfläche für alle Marschierenden sehr gefährlich. Man braucht nur auszurutschen und schon verabschiedest du dich für immer vom Leben, für das du so lange gekämpft hast.

Das heftige Zerren von Karels Hand reißt dich zwangsläufig aus deinen Gedanken.
Ein Beben durchläuft die ganze Reihe wie ein Vorzeichen des Todes.
Du gehst weiter und siehst diejenigen, die nicht durchgehalten haben, neben dem Weg liegen.
Wie hättest du die Ursache ihres Todes nicht sehen können?
Die Hand tut dir weh, du möchtest sie bewegen. Du kannst nicht. Wie das?
„Karel, lass los! – Nein, nein, lass nicht los!“
Ja, wir müssen uns noch mehr zusammenschließen.
Karel fühlt, wie unsicher du auf dem Weg gehst. Wie eine Mutter ihr Kindchen führt er dich heute.

Aber erneut erblickst du das grausige Werk des Hasses, und erneut fühlst du den mächtigen Druck der Hand deines Kameraden. Ja, du musst weiter und verges-sen, was du zuletzt gesehen hast.
Aber es gelingt dir nicht, und du fängst wieder an nachzudenken.
Schließlich war das ein junger Mensch. Und du? Du bist doch auch jung.
Nein, lass das Nachdenken besser.
Du musst doch weiter, lauf schnell, vorwärts!

Vorsicht! Karel bleibt zurück.
Was soll das? Kann er nicht mehr?
In diesem Augenblick spürst du, wie sehr dir derjenige fehlen würde, der an deiner Seite geht.
Nein, nichts ist passiert. Karel hat nur ruhig ein Stück Brot abgeschnitten und gibt es dir. Es ist der erste Bissen nach acht Stunden Weges. Du verspürst keinen Hunger mehr, sondern isst eher aus der Notwendigkeit, dir wenigstens so viel Kraft zu erhalten, den Marsch fortsetzen zu können – ein Marsch, der nicht die Beseitigung der Probleme gebracht hat, die schon am Beginn vorhanden waren, ein Marsch ins Ungewisse.

Der Weg macht eine leichte Biegung, und du siehst eine Unmenge Menschen vor dir. Du schaust dich um und siehst nur wenige, ja, ganz wenige hinter dir. Du denkst nicht darüber nach und gehst ruhig weiter.

Langsam wird es Tag. Du fühlst das Bedürfnis dich zu setzen und zu schlafen. Doch in der Nähe gibt es keinen Platz, nein, keinen Platz zum Ausruhen.

Wieder drehst du dich um und schaust hinter dich. Du siehst, dass hinter dir immer weniger Leute sind, als vorher da waren.
Wie das? Wo sind sie? So fragst du dich selbst und hast keine Antwort –
so wie auf viele Fragen, die dein künftiges Leben betreffen.

Aber jetzt wird dir klar:
Hinten ist ´das Ende`!!!.

„Karel!!! Wir müssen nach vorne!“
Und plötzlich sprichst du leise nur zu deinem Kameraden. „Schau nach hinten.“
Ja, er versteht, aber er sagt, dass ihr langsam gehen müsst.
Ja, langsam, aber nach vorne. Vorn ist das Leben, vorn ist die Zukunft und vielleicht auch das Ziel.
Ja, langsam voran, aber doch in die ersten Reihen der Marschierenden.

Die anderen dürfen nur nicht sehen, dass du überholst.
Sie können nicht. Sie gehen langsam.
Und du überholst sie. Du bleibst stehen und …
Nein, du musst nach vorne, hinten ist doch …!
Aber was ist mit den anderen? Die wollen doch auch leben!?
Ja, sie wollen, aber …
Nein, du kannst das nicht zu Ende denken, möchtest es nicht zulassen, und doch musst du dir sagen: Sie können nicht und du musst.
Du bist jung, musst leben, musst deine Erfahrungen weitergeben.
Schließlich weißt du, wofür das alles ist, schließlich begreifst du die Notwendig-keit eines Wandels und eines Urteils über alle diejenigen, die durch ihre Macht den Glauben der Menschheit an Fortschritt, Glück und Frieden zerstört haben.

Du nimmst zwischen dich und Karel einen von denen, die nicht mehr können. Du möchtest mit ihm weiterkommen, möchtest ihm helfen.
Er aber ist schwach. Sehr, sehr schwach. Er würde dich aufhalten, und du würdest ihn nur ans Ende begleiten und vielleicht mit ihm dort bleiben.
Du musst nach vorne, weiter. Du lässt ihn los und gehst. Mit jeder überholten Gruppe von Leuten entfernst du dich vom Ende.
Ja, vom Ende, weiter, weiter, du willst leben.



Endlich der erste Halt. Alle setzen sich auf die gefrorene Erde. Und du?
Nein, jetzt geht es nicht weiter. Du darfst dich nicht verraten. Du musst dich setzen. Du setzt dich auf eine Decke, die dir dein Kamerad untergelegt hat.

Und schon macht sich der erste Teil der Marschierenden erneut auf den Weg. „Karel, gehen wir, gehen wir weiter!“

Aber Karel sitzt und kann nicht aufstehen.
„Karel, du musst aufstehen: du musst, musst weiter!!
Wohin schaust du denn? Weswegen bist du erschrocken?“
Du drehst dich um und folgst seinem Blick, langsam und unsicher, erwartest das Schlimmste und …

„Ja, aber wir doch nicht ….?!“

Reiß dich los von der Verzweiflung, die Karel durchlebt.
Und gewaltsam machst du dich frei von den Ergebnissen der Knechtschaft des Todes und des Hasses, mit dem Blick und mit deiner ganzen Seele.

„Karel, wir müssen weiter, uns haben schon viele Leute überholt.
Steh auf!!!“

Und Karel steht langsam auf.
Er ist nicht fähig, nicht fähig zu leben. Sein kalter Blick scheint tot zu sein.
Er schaut auf dich und sieht dich nicht.
„Karel, lebst du? Karel!“
Du schlägst ihn, willst aus ihm wenigstens ein bisschen Leben heraushauen.
Er muss leben. Du schlägst, drischst auf ihn ein und schreist wie in Agonie.
„Karel, du musst leben, du musst weiter.“
Karel kann sich nicht von den letzten Anblicken losreißen. Vielleicht spürt er deine Schläge nicht einmal?
Du schiebst ihn vor dir her.
Langsam verlasst ihr den Ort, der in euch den Eindruck der letzten Reise des Lebens hinterlassen hat.

Du hast vergessen, dass du überholen musst, es reicht im Augenblick, dass Karel mit dir weitergeht. Er lebt und geht, und das ist für dich die Hauptsache.
Du bemühst dich, ihn zu einem schnelleren Gang zu bewegen. Du sprichst zu ihm, und langsam beginnt er, dir zu antworten. Du sprichst von belanglosen Dingen. Du sehnst dich nach der Dunkelheit, nach der Nacht, von der du dir Ruhe und Trost erwartest.

Ihr geht langsam vorbei an Städten und Dörfern. Aber Sie sind euch allen fremd. Auf der linken Seite schlängelt sich der schmale Streifen der Eisenbahngleise dahin, die auf einen Zug mit Passagieren warten, mit Passagieren, die in ihrer Freiheit an Sklavenhalter erinnern. Und dennoch sehnt ihr euch danach, in eben diesem Zug zu sein.
Stattdessen geht, lauft, trabt ihr weiter.
Die Sonne, die euren Weg wie eine Fackel des Friedens, der Geborgenheit und des Glaubens an die Zukunft beschienen hat, ist langsam untergegangen.
Erloschen wie das Leben jener Menschen, die nicht durchgehalten haben.

Weit hinter der Stadt ist ein kleiner Spielplatz, der all denen zur Rast dienen soll, die den Weg bis hierhin geschafft haben.
Die Nachricht davon verbreitet sich wie ein erleichtertes Ausatmen. Eine Aussicht, die neue Kräfte, neue Energie bringt und die Hoffnung, dass das die erste und letzte Erholung vor der Beendigung des Wegs ist.
Es ist auch eine Gelegenheit, um in den vorderen Teil des Stroms der Mar-schierenden zu gelangen.
Du breitest die Decke aus und setzt dich hin, ja, setzt dich hin und beobachtest das Treiben, das beim Eingang herrscht.
Du musst aufpassen, damit du es nachher schaffst, unter den ersten zu sein.

Dein Kamerad ist gerade dabei, seine Stiefel gegen Holzschuhe zu tauschen, als ihn die plötzliche Nachricht vom Abmarsch aufschreckt.
Es ist ein von den aufgeregten Gedanken der Menschen ausgehender Alarm. Diese falsche Nachricht hat eine fatale Wirkung auf eine ganze Gruppe, und zwar jene Gruppe, die, wie sich später zeigt, bald ihr Leben beenden sollte.

Die Ruhe, die immer nach solch einem Erschrecken eintritt, muss ausgenutzt werden. In dem Augenblick, da es dir scheint, dass das jetzt der richtige Alarm ist, gehst du mit deinem Kameraden langsam nach vorne.
Wie eine Lawine stürmen alle los, die auch so gedacht haben.
Ihr seid bald unter den ersten, das heißt, dass der Marsch gleichmäßiger, ruhiger sein wird, und die Hauptsache ist, dass ihr weit, weit weg vom Ende sein werdet.

Langsam leert sich der Spielplatz, auf dem die Überreste der Sachen zurück-bleiben, welche die Marschierenden nicht mehr tragen können. Es bleibt auch eine bestimmte Gruppe von Menschen zurück.
Ihr seid schon weit hinter der Stadt, als man den Hall der ersten Schüsse hört.

Der Wind bringt Schnee mit sich und mit ihm die Befehle der Herren.
Und so geht ihr weiter, immer weiter, obwohl der Schnee und die Kälte, der Wind und das Eis einen normalen Marsch unmöglich machen. Der Weg schlängelt sich hinter der Stadt langsam in Richtung einer großen Scheune.
Daraus schließt die Mehrheit, dass das eure Behausung für eine Nacht sein wird. Und schon führen sie euch hinein.

Schnell, hinauf, höher, oben ist Ruhe! Und schon hilfst du deinem Kameraden durchs Heu nach oben, während andere, die nicht können, unten bleiben. Du siehst dich nicht um, und dein einziges Bemühen ist es, so schnell wie möglich hochzukommen …,
und Karel ist schon dort, jetzt du. Zwei bereitwillige Arme greifen nach dir
und … Ja, sie wollen, aber sie können nicht.
Du wirst vom Strom der neu Hinzukommenden zurückgerissen. Du verlierst dich unter ihnen. Sie wollen auch nach oben.
Du darfst dich nicht aufhalten!!! Du darfst nicht warten.
Und so versucht Karel mit einer kurzen Anstrengung, dich nach oben zu ziehen. An deinen Beinen hängen zwei der neu Hinzugekommenen, ein Grieche und ein Pole. Am einen Arm zieht dich Karel, am anderen ein Holländer. Und so sollst du nach oben gelangen. Karel zieht, und du hilfst ihm, so gut es nur geht. Und so haben sie schließlich dich und den Griechen nach oben gezogen.
Du setzt dich neben den Holländer und drückst ihm die Hand. Du weißt nicht, was er sagt, aber du weißt, dass er dich gerettet hat, dir vielleicht sogar das Leben gerettet hat.

„Karel, hast du Brot?“
Nein, er hat keines und du auch nicht!! Du schaust nach unten, nein, nach unten kannst du nicht, unten erwartet dich …
Weiter denkst du nicht, Du weißt nur, dass du nichts zu essen hast.
Lieber hungern als noch einmal nach unten gehen.
Geh weiter hinauf, noch weiter.
Du nimmst den Holländer und Karel und ziehst sie nach oben.
Ihr könnt nicht gemeinsam gehen, ihr müsst euch trennen. Ihr geht jeder in eine andere Richtung um die übereinander liegenden Menschen herum. Ihr fallt ins Heu.
In diesem Moment zeichnet sich dir vor Augen das Bild sich möglicherweise entzündenden Heus ab.
Natürlich beeinflusst auch das deinen Weg. Du gehst höher, in Richtung des einzigen kleinen Fensters. Dort stößt du auf Karel, während der Holländer irgendwo bei den Seinen verschwunden ist.

„Karel, wo hast du das her?“
„Frag nicht und iss“, klingt die strenge Antwort.
Später, als du eine Weile überlegst, bist du dankbar dafür, dass du mit ihm zusammen bist, dass ihr euch einer um den anderen kümmern könnt.

Der Holländer erscheint dir wie das Auftauchen eines Menschen im schwersten Augenblick, wenn es keinen Unterschied gibt zwischen einem Franzosen, einem Griechen, einem Italiener, einem Tschechen und jedem anderen Volk.
Im Tod seid ihr euch hier alle gleich, warum solltet ihr einander also nicht helfen können, wenn das erforderlich ist. Ja, es gibt keinen Unterschied zwischen euch, es gibt hier nur die Angewohnheiten und Vorurteile der Alten, die Jüngeren verstehen es, einander helfen.

Dieser Tag des Wegs – es ist bereits der siebte – ist, wie es scheint, ein unend-licher Tag. Die einen sagen, dass ihr morgen schon den Zug erreichen werdet, während die anderen behaupten, dass das nur ein Teil und noch dazu ein kleiner Teil des Wegs sei, den ihr bislang gegangen seid. Sie sagen noch weitere vier-zehn Tage voraus. So haben sie sich in zwei Lager geteilt, ein pessimistisches und ein optimistisches. Zu letzterem gehörten nur sehr wenige. Wenige waren es auch, die darüber überhaupt nicht nachdachten. Zu ihnen gehörtest du.

Und so, ohne Nachdenken, schläfst du mit deinem Kameraden in einem Heu-haufen ganz oben in der Scheune ein. Du schläfst ruhig ein, aber dennoch mit dem Bewusstsein, dass du so früh wie möglich aufwachen musst.

Die traumlose Nacht wird von einem harten Erwachen beendet. Mehrere Alarmschüsse sind ein guter Wecker. Die Schuhe anziehen und eilig nach unten. Der erste Weg führt in den Stall, zu trinken und sich zu waschen. Schnell, einer nach dem anderen, so bekommen einige und vor allem diejenigen, die sich überhaupt waschen wollen, wenigstens etwas Erfrischung.

„Karel, da sind doch auch Frauen. Wie sind die hierher gekommen?
Das sind doch die ersten, die sich aus dem Lager auf den Weg gemacht haben.“
Und schon suchst du unter ihnen Bekannte.
Nach dieser Aufregung zwingt ihr euch, vorwärts zu laufen und euch nicht um die Frauen zu kümmern.
Die Frauen, die vor dem Gut standen, wollten mit euch gehen. Aber sie wurden abgetrennt.

Ihr setzt langsam euren Weg fort. Zu beiden Seiten ist Bewegung: Autos, Pferde und alles, worauf etwas transportiert werden kann. Das Tempo, das diese Hilfsgruppen bei der Evakuierung vorlegen, ist geradezu wahnsinnig.

Die letzten Reste an Speisen sind aufgegessen, es bleiben nur ein paar Kartoffeln und die Möglichkeit, entlang des Wegs etwas zu finden, zu stehlen oder …
Du denkst nicht weiter darüber nach, wie man an etwas zum Essen kommen könnte. Die Kräfte sind bei einigen nach dem Schlaf sehr geschwächt, bei den meisten jedoch gestärkt.
Du bist in Ordnung, während Karel ziemlich schwankt.
Er ist schwach.
Er geht jedoch weiter, er geht, und der Weg erscheint ihm unendlich.
Bei jedem kleinen Halt möchte er sich setzen.
(hier endet der Brief)


Hans Bender
(biographische Daten zu dem vermutlichen Verfasser dieses Briefes sind dem Herausgeber leider nicht bekannt)

* Todesmärsche: Der erzwungene Rückzug der deutschen Truppen führte ab Sommer 1944 dazu, dass die SS-Lagerleitungen die in Frontnähe geratenen Konzentrationslager auflösten und räumten. Beim Herannahen der Alliierten Truppen wurden die Häftlinge in langen Marschkolonnen in Richtung Reichsmitte »evakuiert« oder mit Eisenbahnzügen – oftmals in offenen Güterwagen − abtrans- portiert. Mit diesen Maßnahmen versuchte die SS, die Arbeitskraft der Häftlinge zumindest zum Teil für andere Lager noch zu erhalten. Nicht marschfähige Häftlinge wurden oft an Ort und Stelle er- schossen. Viele der völlig ausgezehrten Häftlinge überlebten die tage-, manchmal auch wochenlangen Märsche nicht. Sie erfroren, verhungerten oder brachen geschwächt am Wegrand zusammen und wurden dann von den sie begleitenden SS-Wachmannschaften erschossen. Aber es waren nicht nur SS-Leute und Wehrmachts- soldaten, die für diesen letzten Akt der Barbarei die Verantwortung trugen. Zur Bewachung der Häftlinge fanden sich neben Polizisten, Volkssturm- und Wachmännern auch viele mit Jagdgewehren bewaffnete Zivilisten und Hitlerjungen ein. Es war oft die reinste Menschenjagd, die diese Männer veranstalteten. Von den über 700000 ehemaligen KZ-Häftlingen, die Anfang Januar 1945 regi- striert waren, kamen in den letzten Kriegsmonaten rund eine Viertel- million unter grausamsten Bedingungen um.

(Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45)